Bruno von Flüe (1948) arbeitet als Psychotherapeut in freier Praxis in Luzern. Nach dem Studium der Philosophie Ausbildung zum Analytiker am C. G. Jung Institut. Dort ist er als Dozent tätig. Außerdem leitet er die Thomas Ring Stiftung.

Individualität im Horoskop

Im Geburtsbild tritt uns die Individualität, das Wesen eines Menschen als eine vielgestaltige Chiffre entgegen. Wo es uns gelingt, in seine Bezüge hineinzuhören, folgen wir den Spuren des Wesens dieses Menschen, wie es aus großer, ganzheitlicher Tiefe heraus sich ausgestalten will. Vielleicht ist dieser Sachverhalt nur paradox zu formulieren: Im Geburtsbild drückt sich in der Strenge und Offenheit symbolischer Struktur ein Grundriss des Wesens, der Individualität eines Menschen aus. Im Geburtsbild drückt sich Individualität wesenhaft aus ohne sie zu sein. Die Individualität des Menschen ist sowohl ihm selbst wie auch den anderen nie wirklich in ihrer Ganzheit gegeben; sie erwächst aus einer Tiefe, die sich jeder Phänomenalität entzieht. Als ein schlechthin Unverfügbares ist sie dennoch da: denn dieser einzelne ist. Wie nah die Konstellation der Geburt ihr letztlich kommt, vermögen wir nicht zu sagen. Es ist eigenartig und bedenkenswert, daß eine Ordnungs-Struktur, aus der wir im Grunde keine einzige wirkliche Tatsache ersehen können, der unverfügbaren menschlichen Individualität so nahe zu sein scheint, daß wir den Eindruck haben, in der unwiederholbaren Anordnung von elementaren, archetypischen Lebensfaktoren tatsächlich ein Abbild unseres individuellen Wesens zu sehen. Dieser Anschein entsteht wohl immer wieder, weil wir getroffen sind durch den Reichtum und das Grundsätzliche der Einsichten, wie sie sich uns erschließen, sobald wir konkrete tatsächliche Erfahrungen im Lichte der Konstellations-Gestalten überraschend klar und neu verstehen lernen. In solcher Betroffenheit kann uns das Geburtsbild zu einer Chiffre unseres individuellen Wesens werden.Wenn das Geburtsbild eine Ordnungsgestalt von Anlagen ist, wie sie allem Tatsächlichen voraus- und zugrunde liegt, dann können wir aus diesem Gefüge selbst nicht schon Tatsächliches ableiten. Daraus ergeben sich wichtige grundsätzliche Grenzen der astrologischen Aussage. Über die tatsächliche Umwelt, wie sie im Leben eines Menschen von Beginn an eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, läßt sich nichts aussagen. Die Betonung liegt hier auf dem Wort »tatsächlich«. Denn über angelegte Bezüge zu möglichen Umwelten und archetypisch umreißbaren Bezugspersonen lässt sich erstaunlich vieles und grundsätzlich Genaues aussagen. Ebenso kann aus dem Geburtsbild alleine über faktisch bereits vorhandene Begabungen, soweit sie mit genetischen Tatsachen zusammenhängen, nichts erschlossen werden. Als Beispiel: Auch wenn im Geburtsbild viele Gestaltfaktoren auf eine Affinität zum Musischen, vielleicht in Form der Sprache oder etwa der Musik, hindeuten, ist daraus die Begabung, wie sie tatsächlich schon vorliegt, nicht ableitbar. Das heißt weiter: Über das Niveau eines Menschen, sei es verstanden als Ausdifferenzierung von Können oder aber als Reife und Sittlichkeit, ist nichts auszumachen.Das alles verdichtet sich in der entscheidenden Aussage-Grenze gegenüber dem innersten, unantastbaren Kern des Menschen, worin seine Freiheit wurzelt: Wie ein Mensch sich zu sich selbst (alle seine Anlagen eingerechnet) verhält, muss offen bleiben. Es kann sein, dass er sich über Jahre hinweg in immer gleichen Entsprechungen bestimmter Konstellationen bewegt, und plötzlich, eines Tages, ist es soweit: Er verhält sich nur eine Spur anders und konstelliert damit eine neue, bisher so nicht erfahrene Variation derselben Anlage.Eine letzte, meist kaum beachtete Aussage-Grenze könnte man die »hermeneutische« nennen. Sie verweist uns auf etwas im Grunde Selbstverständliches, dessen wir uns jedoch selten bewusst sind: dass nicht nur der konkrete Mensch in seiner Tatsächlichkeit und Freiheit, sondern auch die Struktur selbst seines Geburtsbildes mit keiner Deutung ausgeschöpft und völlig eingeholt werden kann. Je nachdem, aus welchen Erfahrungen heraus (und den dazugehörigen Fragen) wir an die Struktur eines Geburtsbildes herantreten, werden wir anders gelagerte Antworten (konkrete Bestimmungen) erlangen. Diese Zirkelstruktur gilt zwar strenggenommen für jede Weise menschlicher Erfahrung; aber innerhalb der astrologischen Wahrnehmung spitzt diese Problematik sich zu. Denn die Konstellation eines Geburtsbildes durchragt alle Seinsebenen, an welchen menschliches Existieren teilhat, und birgt dadurch eine Spannweite in sich, die auch durch die gründlichsten und verschiedenartigsten Deutungsansätze nicht ausgeschöpft werden kann.'